Monsieur Martinů trug praktisch immer, wenn er ausser Haus ging, ein Béret. Eines Tages wollte er ausgehen, fand aber sein Béret nicht. Überall wurde gesucht. Plötzlich entdeckte Monsieur Martinů sein Béret, doch hatte es sich Minouche darauf bequem gemacht. Monsieur Martinů begann mit der Katze zu schimpfen; diese erhob sich ganz langsam und fixierte ihren Ruhestörer mit festem Blick. Nachdem er ob so viel Frechheit die Sprache wiedergefunden hatte, meinte er zu ihr in festem Ton: „Et surtout, ne fais pas des grimasses!“ Langsam zog die Katze von dannen und unser Spaziergang konnte losgehen.
Fifi
Monsieur Martinů besass einen kleinen Vogel ganz aus Glas, der seinen Platz auf einem Büchergestell hatte. Auch er war ein guter Freund von Monsieur Martinů und erhielt seine Streicheleinheiten. Eines Tages warf Minouche den kleinen Glasvogel herunter. Monsieur Martinů war untröstlich, doch zeigte sich, dass der Vogel nur ein Bein gebrochen hatte. Mit Leim wurde das Bein wieder fixiert, doch zur Sicherheit mit Zündhölzchen und Nähfaden geschützt. Fifi konnte jetzt aber nicht mehr selbst auf Futtersuche gehen. Monsieur Martinů schaffte Abhilfe mit einem Stück Karton; darauf wurden mit einem Vierfarben-Kugelschreiber ein Gartenzaun, Gras, Würmer und Käfer gezeichnet und der gut versorgte Fifi hinein gesetzt. Monsieur Martinů war auf sein Werk sehr stolz
Campari
Monsieur Martinů erschien bei uns meist zwischen vier und fünf Uhr. Zu dieser Zeit war ich meist an meinen Hausaufgaben. Da mein Zimmer über der Haustüre lag, war ich meist der erste, der das Erscheinen von Monsieur Martinů bemerkte. Treppe hinunter. Türe öffnen. „Bonjour, Monsieur Martinů, entrez.“ Er entledigte sich seiner Jacke und des Bérets, stellte sein gelbes Einkaufsnetz ab und steuerte ohne viel Umstände auf „seinen“ blauen, tiefen Sessel zu. „Voulez-vous un campari?“, fragte ich fliessend französisch, er nickte, lächelte verschmitzt und meinte: „Avec plaisir.“ Ich eilte in die Küche, Glas mit einem Eiswürfel gefüllt, ein kleines Stück Zitronenschale, gesalzene Nüssli aus der blauen Dose, ein paar selbst in den Mund gesteckt, alles auf ein Tablett, Henniezflasche unter den Arm und ab zu Monsieur Martinů, der zufrieden wartete. Alle Handgriffe sassen, da sie schon x-mal geübt worden waren. Auch wusste ich genau, wieviel Henniez er eingeschenkt haben wollte, aber ich stockte mit dem Eingiessen erst auf sein Zeichen. Da Monsieur Martinů immer seinen Campari wollte, hätte die Zeremonie deutlich abgekürzt werden können, doch er und ich genossen diese Spielchen sehr. Leider musste ich dann aber wieder an meine Hausaufgaben.
Berner Bär
Eines Tages war in Basel ein Fest. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, die Häuser zu beflaggen. In Ermangelung einer Basler- oder Schweizerfahne wurde bei uns eine Bernerfahne über den Balkon gehängt. Zu seiner gewohnten Zeit kam Monsieur Martinů und besah sich die Flagge eingehend. Er fragte, was das sei, und ich erklärte: „C’est l’ours de Berne.“ Nochmals ein Blick zur Fahne und dann sein Kommentar: „Il a l’air très méchant.“
Respighi
Zu jener Zeit waren Tonträger mit Monsieur Martinůs Musik noch eine Rarität. Über sieben Umwege konnte ein Band aus der Tschechoslowakei mit Martinůs Musik aufgetrieben werden. Um diesem Ereignis auch genügend Tribut zollen zu können, wurden Leute eingeladen. Monsieur Martinů bezog seinen blauen, tiefen Sessel. Das Tonband wurde gestartet und jedermann hörte ergriffen der Musik zu. Das Stück war zu Ende, bewegtes Schweigen. Das tönte es aus dem blauen Sessel: „Ça, c’est du Respighi!“
Dazu ist zu bemerken, dass kurz zuvor ein Stück von Monsieur Martinů uraufgeführt worden war. In einer Zeitungskritik war zu lesen, dass Monsieur Martinůs Musik Respighi-hafte Einflüsse habe. Diese Beurteilung hat Monsieur Martinů, glaube ich, sehr geärgert.
Einkaufsbummel
Herr Sacher besass einen schwarzen Rolls Royce und einem blauen Bentley; diese wurden von einem Chauffeur, Werner, gefahren. Werner trug eine dunkelblaue Livree und gelegentlich eine Mütze mit schwarzem, steifem Schild. Monsieur Martinů benützte die Gelegenheit, wenn möglich mit Herrn Sacher, dem Rolls Royce und Werner in die Stadt zu fahren. Zu jener Zeit gab es in Basel ein Strassencafe schlechthin, das Casino. Am zentralen Platz wurden ca. 50 kleine Marmortische und Plastikstühle aufgestellt und ganz Basel versammelte sich dort unter dem Motto: Sehen und gesehen werden.
Gelegentlich ereignete sich im Casino vor den Augen der Cafégäste Seltsames. Ein schwarzer Rolls Royce fuhr vor und hielt an. Ein livrierter Chauffeur stieg aus, ging um dieses Vehikel herum und öffnete den Fond. Die Hälse im Café wurden länger, die Spannung stieg – wer wird jetzt wohl aussteigen? Ein weltberühmter Musiker, ein bekannter Maler oder gar eine Filmdiva (am liebsten Brigitte Bardot oder so)? Zuerst wurden ein paar blaue Bata-Turnschuhe sichtbar, dann folgte ein Paar olivgrüne Manchesterhosen, eine etwas zu enge graue Jacke, eine Hand mit einem gelben Nyloneinkaufsnetz und zu guter Letzt ein schwarzes Béret. Et voilà, Monsieur Martinů stand auf dem Trottoir, verabschiedete sich von Werner und bewegte sich munteren Schrittes stadteinwärts. Das Rätselraten und diesem Geheimnisvollen war gross, ebenso die Spekulationen. Monsieur Martinů schien dies zu geniessen.
Chartreuse rose
Nach gemachter Einkaufstour pflegte Monsieur Martinů sich auch ins Strassencafé Casino zu setzen. Bevor er sich setzte, schaute er nach dem Bedienungspersonal aus. Er suchte sich einen freien Platz in den Sektor, in dem er den Kellner nicht kannte. Rasch war die fleissige Bedienung zur Stelle und fragte Monsieur Martinů nach seinen Wünschen. Monsieur Martinů bestellte Chartreuse rose, der Kellner verschwand, um nach einiger Zeit wieder zu kommen mit der Meldung, in Casino gebe es nur Chartreuse verte. Monsieur Martinů bezog sich auf die Speisekarte und so wurde gesucht und gesprochen und hin und her geredet, bis der Oberkellner, der Monsieur Martinů bestens kannte, dem armen Kellner zu Hilfe eilte und ihm erklärte, dass die gesuchte Flasche in einer Bar des Hauses im zweiten Stock zu finden sei. Der Kellner brachte den gewünschten Drink und Monsieur Martinů freute sich, wieder ein Opfer von Chartreuse rose gefunden zu haben. Er erzählte uns auch davon mit Schmunzeln. Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob Monsieur Martinů wirklich so gerne Chartreuse rose getrunken hat und ob, nachdem Monsieur Martinů nicht mehr ins Casino gegen konnte, die Speisekarte in diesem Punkt geändert wurde.
Klavierstunde
Meine Mutter und ihr Lebenspartner spielten recht gut Klavier und man beschloss, nach dem berühmten Konzert in Besançon sich ans Konzert für zwei Klaviere zu wagen. Nach einigem Üben wurde Monsieur Martinů gefragt, ob er sich das Erarbeitete mal anhören wolle. Die drei verschwanden im Musikzimmer und ich hielt mich möglichst in der Nähe auf, um ja nichts zu verpassen. Nach ein paar Takten begann Monsieur Martinů zu korrigieren und zu erklären, wie er eine Stelle gespielt haben wollte. Ich verstand zwar seine Korrekturen nicht, hörte aber sofort, was und wie er verbessert hatte. So nach einer Stunde öffnete sich die Türe wieder, und ich musste mich schleunigst noch besser verstecken. Zwei völlig erledigte Pianisten erschienen, gefolgt von einem sichtbar zufriedenen Monsieur Martinů. Für mich hatte die Sache zwei Konsequenzen. Zum einen sah ich, dass auch die Leute, die mich erziehen sollten, einmal gehorchen mussten, und zum anderen, und viel wichtiger, lernte ich das Konzert für zwei Klaviere kennen, wie es Monsieur Martinů eigentlich haben wollte.
Der belauschte Komponist
Eines Tages kamen wir, Monsieur Martinů und ich, von einem kleinen Spaziergang heim in den Schönenberg. Monsieur Martinů öffnete die Türe zu seinem Musikzimmer, er wollte offenbar arbeiten. Er musste zuerst aber noch in die darüber liegende Wohnung und verschwand. Trotz strikten Verbotes schlich ich mich unter den Flügel und harrte der Musik, die da kommen sollte. Es sei bemerkt, dass der Flügel einst im Besitze von Clara Schumann gewesen sein soll. Monsieur Martinů kam zurück, wobei ich nur seine blauen Bata-Turnschuhe sah. Was ich hörte, war eigentlich nicht interessant. Er griff Akkorde, schrieb, summte, griff wieder kurz in die Tasten, sprach mit sich selber in einer Sprache, die ich nicht verstand, schrieb wieder usw. Ich nehme an, dass Monsieur Martinů mich bemerkt hatte, denn nach kurzer Zeit ging er wieder aus dem Zimmer und liess die Türe offen, was sonst nie geschah.
Brotessen
Wenn Monsieur Martinů bei uns ass, musste immer Brot auf den Tisch, denn er liebte es sehr. Monsieur Martinů hatte die Gewohnheit, nur das Weiche zu essen, die Rinde aber wegzulegen. Von der Freundschaft zwischen Monsieur Martinů und Dackelhund Toto war schon die Rede. Diese setzte sich auch während des Essens fort. Toto setzte sich neben oder noch lieber zwischen die Beine von Monsieur Martinů. Monsieur Martinů wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Toto am Tisch nicht gefüttert werden sollte. Toto hatte aber Monsieur Martinů recht bald durchschaut und gemerkt, dass hier etwas zu holen ist. Auf jeden Fall verschwanden immer wieder Rindenstücke spurlos. Gelegentlich aber verschwand auch seine linke Hand unter dem Tisch und manchmal durchzuckte es das Gesicht von Monsieur Martinů, dann nämlich, wenn Toto aus lauter Gier Monsieur Martinů in die Finger zwickte. Scheinheilig beteuerte Monsieur Martinů immer wieder, den Hund nicht zum Entsorgen seiner Rinden zu benützen.
Hochzeit
Eines Tages wurde uns erklärt, das Monsieur und Madame Martinů heiraten werden. Wir waren natürlich neugierig, wie dies dann komme. Monsieur und Madame hatten seinerzeit nur zivil heiraten können – aus welchen Gründen auch immer – und sie beschlossen, die kirchliche Trauung nachzuholen. Mit Pfarrer Max Kellerhals in Liestal war das Wichtigste gefunden, eine Handvoll Leute wurden eingeweiht und so heirateten die beiden mit über 60 Jahren mit allem, was dazugehört. Selbstverständlich war ich noch zu klein, um dabei zu sein.
Schlusswort
Es ist völlig klar, dass nach mehr als 40 Jahren einiges sich anders abgespielt hat, als es notiert wurde. Es geht aber auch nicht darum, über Monsieur Martinů detailgetreu zu berichten. Mir geht es darum zu zeigen und den Leser spüren zu lassen, was für ein Mensch Monsieur Martinů war, abseits von der Musikwelt. Monsieur Martinů stand m.E. nicht gerne im Rampenlicht, er war gegen aussen eher scheu und zurückhaltend. Bei Leuten, deren Vertrauen er sich eingeholt hatte, lebte er auf, war gesprächig, offen und immer für einen Schabernack bereit. Monsieur Martinů zu beschreiben ist sehr schwierig, am besten man hört sich seine Musik an.